EHEMALIGENBERICHT


  
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ERINNERUNGEN AN DIE SCHULZEIT IM THAER-SEMINAR IM JAHRGANG 48/49
DR. GERHARD BARNER

Meine erste Berührung mit dem Thaer-Seminar fand im Winter 1947 statt. Das Ziel war klar: Ich wollte meine praktischen Erfahrungen mit theoretischem Wissen untermauern. Da ich aus einem Arzthaushalt stamme und kein landwirtschaftlicher Betrieb zur Verfügung stand, brauchte ich die Erweiterung auch aus Gründen späterer Berufsmöglichkeiten. Alle Ratschläge Dritter führten nach Celle, so dass ich einen Vorstellungsbesuch mit dem Vorzimmer des Direktors, Frl. Kassenbart, verabredete. Ich fuhr auf Wagenpuffern oder Trittbrettern der Deutschen Reichsbahn nach Celle und meldete mich im obersten Geschoss des alten Thaer-Gebäudes. Den wesentlichen Teil des lnformationsgespräches bestritt dann Frl. Kassenbart. Man spürte sofort, dass sie den Laden managte. Das Abschlussgespräch führte - sehr jovial - der Herr Direktor Dr. Bartels und fasste das Ergebnis wie folgt zusammen: "Junger Mann, Sie planen einen richtigen Schritt, sind herzlich willkommen, Ihr Jahrgang ist aber erst 1952, frühestens 1950, dran. Wir bitten um Verständnis, aber wir haben nun einmal die vielen Kriegsteilnehmer als Bewerber, die ja älter sind als Sie und nach einem schnellen Ausbildungsabschluss streben."

Ich fuhr völlig beduselt davon. Drei Tage habe ich nachgedacht und bin dann zur Tat geschritten. Ich habe einen höflichen Brief an den Herrn Direktor geschrieben, mich für das Gespräch bedankt und zum Ausdruck gebracht, dass ich mich mit dem Ergebnis nicht zufrieden geben könne. Ich sei politisch Verfolgter im Dritten Reich gewesen und bäte, das bei der Entscheidung zu meiner Zulassung  zu berücksichtigen. Ich hätte wohl Verständnis dafür, dass man am Teilnehmerkreis des Jahrganges 47/48 nichts mehr ändern wolle, aber ich bäte doch darum, im Jahrgang 48/49 aufgenommen zu werden. So geschah es dann auch.

Zum 1.4.1948 trudelte ich also mit kleinem Koffer und Wäschesack in Celle ein und bezog mein Zimmer - Frl. Kassenbart hatte es besorgt - in der Harburger Straße im 3. Stock. Ein älteres, nettes Ehepaar - beide in den 70ern - vermieteten ihre gute Stube: Esstisch mit vier Stühlen, Anrichte mit Scheibenschrankaufbau, ein Ohrensessel mit Schondeckchen auf den Armlehnen. Dazu gestellt war ein kleiner, alter Schrank und ein Bett mit durchgelegener Matratze und Sprungfederrahmen. Stillgelegte Heizung und Bullerofen mit Ofenrohr aus dem Fenster, Badbenutzung, Vorratshaltung unter dem Bett. Köstlich. Nachkriegsidylle. Aber man arrangierte sich.

Nun hieß es, sich auf das neue Umfeld einzustellen. Das war für den einen mehr, für den anderen weniger schwer. Stand man doch vor einem ganz anderen Tagesablauf und vor einer völlig veränderten Eigenverantwortung. Wir waren 60 Teilnehmer des Thaer-Seminars im Alter von 21 bis 36 Jahren (Durchschnittsalter rund 28 Jahre), oder besser Teilnehmer der höheren Landbauschule, denn der Betrieb war völlig verschult. Teilnehmerinnen gab es noch nicht. Zur Verfügung stand ein völlig ausgebuchter Vortragsraum, ein Direktorzimmer, ein Dozentenzimmer und das Sekretariat (Frl. Kassenbart). Alle anderen Räume des alten Seminargebäudes waren anderweitig genutzt. Hinzu kam ein Versuchsfeld vor den Toren der Stadt, der ganze Stolz des Ackerbaudozenten, Herrn Dr. Kirste. Der Unterricht spielte sich in der Regel vormittags ab: Zwei Stunden Betriebswirtschaft bei Herrn Dr. Bartels, zwei Stunden Acker- und Pflanzenbau bei Herrn Dr. Kirste und zwei Stunden Tierzucht und Tierernährung bei Herrn Eickhoff, ich glaube so ähnlich war sein Name. Lehrbücher gab es damals nicht. Wir waren gehalten, die Ausführungen der Dozenten mitzuschreiben, wobei es manchmal schwierig war, das erforderliche Papier zusammen zu bekommen. Das ganze spielte sich etwa so ab, dass sich Gruppen bildeten, in denen abwechselnd Protokolle geschrieben und vervielfältigt wurden, falls ein Apparat zur Verfügung stand. Sonst setzte man sich nachmittags zusammen und arbeitete den Stoff anhand der Aufzeichnungen auf. Man lernte dabei, sein Selbstgeschriebenes wieder zu lesen und das Aufgeschriebene in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Das hatte auch etwas gutes.

Der Lehrstoff wurde von den Dozenten unterschiedlich angegangen. Dr. Kirste mühte sich um die Vermittlung großer wissenschaftlicher Ergebnisse und versuchte — immer sehr ernst — die praktischen Erkenntnisse daraus auf dem Versuchsfeld nachzuweisen, Herr Eickhoff hatte keinerlei Forschungsinteressen sondern brachte eine solide Wiedergabe bestehender Erkenntnisse und Dr. Bartels schöpfte, meist freundlich lächelnd, aus einem großen Erfahrungsschatz. Man muss dabei berücksichtigen, dass die Nachkriegsernährungsschlacht während unseres ganzen Studienjahres ja noch voll im Gang war. Thünens Standortlehre oder das Gesetz vom abnehmenden Ertragszuwachs waren insofern außer Kraft, als die zuletzt produzierte Einheit noch ihren ausreichenden Ertrag abwarf. Kaufmännisches Rechnen haben wir nicht gelernt. Vielmehr gipfelte die ganze betriebswirtschaftliche Weisheit des Dr. Bartels aufgrund der vielen von männlichen Erben verwaisten Höfen in der Aussage (im Originalton): ,,Mane Damen und Herren, passen Sie auf und schreiben Sie auf: Sie haben die ahnmalige Gelegenheit des ahnharatens. Uber 500 Morgen darf sie schielen. Denken Sie daran: Ist sie hässlich, mach dir gar nichts draus, gib einen Kuss und pust‘ die Lampe aus.“

Mehr möchte ich über die Lehrinhalte nicht sagen. Sie haben das ja alle selbst durchgemacht. Festzuhalten ist noch, dass wir im Winterhalbjahr zwei Zusatzwochenstunden in Waldbau durch einen Forstwirt erhielten. Außerdem war die Teilnahme an einem 14-tägigen Deula-Lehrgang in den Herbstferien möglich.

Lassen Sie mich ein paar persönliche Dinge noch anfügen. Ich fand, das Schuljahr 1948/49 war eine herrliche Zeit. Was sind wir vorher als junge Menschen schon gefordert worden. Jetzt war man frei, tat nur etwas für sich, nämlich lernen und genoss das Leben. Man fand neue Freunde, wurde eingeladen, das festliche Leben in Celle war wieder im Entstehen, die Tanzstunde wurde nachgeholt, man ging ins Konzert und in das Schlosstheater, man strampelte in den Ferien mit dem Fahrrad durch Deutschland, man genoss. Natürlich war es nicht für alle eine solch glückliche Zeit, aber mindestens ein Hauch davon berührte jeden. Dagegen trafen die allgemeinen Schwernisse fast alle gleich: Reichsmarkzeit, Lebensmittel-bewirtschaftung, Beziehungen, Schwarzhandel, Besatzungsmacht, Luftbrücke Berlin, Währungsreform, kein Geld aber wieder Ware, Volksküche und Hooverspeisung - eine amerikanische Hilfsmaßnahme - in der Schule. Die Aufzählung ließ sich noch bequem erweitern und zu jedem Punkt könnte man manche Geschichte erzählen. Es war eine bewegte Zeit.

Mit dem Jahreswechsel 1948/49 rutschte die Abschlussprüfung in greifbare Nähe. Es wurde vorwiegend in 3er/4er Gruppen gepaukt. Und man kümmerte sich um die Anschlussbeschäftigung nach Beendigung des Seminars. Bei mir reifte der Entschluss, den Versuch zu starten, weiter zu studieren. Damals konnten sich die zwei Besten eines Lehrganges, wenn sie es wollten, auf Hochschulreife prüfen lassen. Da meine Rücksprachen im Kommilitonenkreis ergaben, dass keinerlei Interesse am Weiterstudieren bestand, wanderte ich zum Herrn Direktor und trug ihm mein Anliegen vor mit dem Hinweis, dass ich doch wohl mindestens zu den Besten gehörte, und, da kein anderer zum Studium drängte, ich den Antrag stelle, mich auf Hochschulreife zu prüfen. Dr. Bartels lehnte strikt ab mit der Begründung, dass man nicht bereit wäre, sich von der praktizierten Regelung zu trennen. Außerdem hätte ich aufgrund meiner Jugend genügend Zeit, das Abitur nachzumachen. Schließlich habe er als Teilnehmer des 1. Weltkrieges erst mit 28 Jahren sein Abitur gemacht. Als ich antwortete, das täte mir leid, wäre aber doch wohl kein Grund für ein so spätes Abitur bei mir, war die Unterhaltung zu Ende. Typisch deutsch - habe ich gedacht und habe ihm nach der Prüfung ohne Groll die Hand gedrückt. Von dem Gedanken des Studiums habe ich mich aber nicht getrennt. Und auch nicht von der Bindung an das Thaer-Seminar - auch wenn meine Besuche zählbar geworden sind.
 
 

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